ALFRED GROSSER
01.02.1925 – 07.02.2024
Unser Schulnamensgeber Alfred Grosser ist verstorben.
Wir verneigen uns vor einem großen Menschen.
Wir tragen seinen Namen mit Stolz und Würde.
Wir bewahren sein Erbe; sein Vermächtnis ist uns Auftrag.
Alfred Grosser bei seinen letzten Besuchen bei uns 2016, 2017 und 2019
Die Schulgemeinschaft des Alfred Grosser-Schulzentrums, der Alfred Grosser-Realschule Plus und des Alfred Grosser Gymnasiums ist tief traurig, erschüttert und bewegt.
Im Foyer des Gymnasiums liegt ein Kondolenzbuch aus.
Alfred Grosser, geboren am 01.02.1925, starb am 07.02.2024 im 99ten Lebensjahr.
Die Schulgemeinschaft trauert in großer Dankbarkeit um einen großartigen Menschen und Freund. Seiner Frau Anni, seinen vier Söhnen und deren Familien gilt unsere tiefe Anteilnahme.
„Ich rühme mich überall, wo ich kann, dass ich Namensgeber dieser Schule bin. Dass ich es geworden bin, habe ich den Schülern zu verdanken, die jemanden wollten, der noch nicht tot ist.“
Stolz spricht auf den ersten Blick aus dieser Äußerung Alfred Grossers; doch auf den zweiten Blick sind es vor allem Dankbarkeit und Freude über die vielen Begegnungen mit „seinen“ Schülerinnen und Schülern. Die Jugend lag ihm besonders am Herzen, für sie empfand er eine große Leidenschaft, mit ihr suchte er bei jedem seiner zahlreichen Besuche in Bad Bergzabern den unmittelbaren Dialog. „Es dürfen keine Erwachsenen in der ersten Reihe sitzen, das stört die Kommunikation“, war seine Überzeugung. Die jungen Menschen wollte er ermutigen, ihren Horizont zu erweitern, ins Ausland zu reisen und Sprachen zu lernen, sich zu engagieren, sich Ziele zu setzen und an ihnen festzuhalten. Er verstand sich als politischer Pädagoge, aber auch als Mahner, das Leiden der anderen nicht aus den Augen zu verlieren: „Vergleicht euch mit anderen, denen es weniger gut geht!“, forderte er sein junges Publikum immer wieder auf. Gegenseitige Toleranz, Respekt und Achtung waren für ihn die Basis jeder menschlichen Begegnung. Dabei scheute er sich nicht, öffentlich Kritik zu üben an Staaten und Regierenden, an Zeitgenossen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Er hielt Kritik aber auch aus, wo sie ihm entgegenschlug. Als er seinen Atheismus öffentlich bekannte, wurde von einigen Kreistagsabgeordneten seine Wahl zum Namensgeber vorübergehend in Frage gestellt. Das verstand er als „wahrhaft demokratischen Vorgang“. Sich deshalb gekränkt zurückzuziehen, kam ihm nicht in den Sinn.
1986 war Alfred Grosser zum ersten Mal zu Gast im Gymnasium. Zum 150. Schuljubiläum war er als Festredner eingeladen. Der in Frankfurt geborene Franzose mit deutschen Wurzeln wirkte seit Kriegsende als engagierter Versöhner und Vermittler zwischen den beiden Nachbarvölkern. Als solchen hatte ihn der damalige Schulleiter Dr. Klaus Hörner eingeladen. Eine Schule, die dabei war, Französisch als neuen Schwerpunkt zu entwickeln, fand in ihm den idealen Festredner. Damals ahnte niemand, dass er zwanzig Jahre später Namenspatron dieser Schule werden würde. Denn als das namenlose Schulzentrum Ende der neunziger Jahre einen Namen suchte, erinnerte man sich nach einem sehr langen und schwierigen, letztlich erfolglosen Prozess doch noch des hoch angesehenen und vielfach ausgezeichneten Politologen, Soziologen, Germanisten und Publizisten aus Paris. Seit Mai 2006 trägt das Schulzentrum seinen Namen. Was zunächst wie eine Kompromisslösung aussah, erwies sich als großer Glücksfall! Seither hat der überzeugte Europäer ein dutzendmal aus den verschiedensten Anlässen „seine Schule“ besucht. Kontakt zu halten war ihm trotz seines hohen Alters immer wichtig. Zuletzt war er im Juni 2019 hier, beim Schulfest zum Kreisjubiläum. Damals war dem 94-Jährigen bewusst, und er sprach es auch deutlich aus, dass es wohl „für lange Zeit“ seine letzte größere Reise sein würde.
Wir verneigen uns vor einem großen Menschen.
Wir tragen seinen Namen mit Stolz und Würde.
Wir bewahren sein Erbe; sein Vermächtnis ist uns Auftrag
Pete Allmann,
Rainer Ehrhardt
Kurzbiografie Alfred Grosser
1925 geboren in Frankfurt am Main als Sohn eines jüdischen Kinderarztes
1933 Emigration der Familie Grosser nach Frankreich,
1934 Tod des Vaters
1937 Einbürgerung der Familie in Frankreich
nach 1940 Konversion zum Katholizismus und Leben unter falscher Identität
Studium der Politikwissenschaft und der Germanistik
1955 Lehrstuhlinhaber am Institut d’études politiques de Paris
ab 1965 Mitarbeiter zahlreicher Zeitungen und Fernsehanstalten
Für seinen jahrzehntelangen Beitrag zur Völkerverständigung erhielt Alfred Grosser zahlreiche Preise und Auszeichnungen (Auswahl).
1975 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1975 Großes Bundesverdienstkreuz
1985 Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern
1991 Offizier der Ehrenlegion (Großoffizier 2001)
1993 Einrichtung des „Lehrstuhl Alfred Grosser“ (Gastprofessuren der Sciences Po in Paris und Nancy)
1996 Schillerpreis der Stadt Mannheim
2003 Großes Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband
2009 Einrichtung der Alfred-Grosser-Gastprofessur an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main
2009 Verleihung der Frank-Loeb-Gastprofessur an der Universität Koblenz-Landau
2013 Theodor-Wolff-Preis für sein publizistisches Lebenswerk
Besuche Alfred Grossers, meist in Begleitung seiner Ehefrau Annie, in Bad Bergzabern
1986 Festredner beim 150. Jubiläum der Wiedergründung 1836
Mai 2006 offizielle Namensgebung im Mai
2008 Podiumsdiskussion und Vortrag
2011 Einweihung des sanierten und neugestalteten Schulgebäudes
Mai 2012 Sitzung mit Franz Leschinger: Modell für Büste
Februar 2013 Vorstellung und Einweihung der Büste
2013 Gemeinsames Schulfest Realschule und Gymnasium
Juli 2014 Feier 50 Jahre Gymnasium
September 2014 Präsentation und Ausstellung im Rahmen des Comenius-Projekts „Europäische Erinnerungskultur“
Mai 2016 Amtseinführung des neuen Schulleiters Peter Allmann
2017 Vorstellung seines Buches „Le Mensch“
Juni 2019 Schulfest des Alfred-Grosser-Schulzentrums und der Böhämmer-Grundschule anlässlich des 50. Kreisjubiläums
Veröffentlichungen Alfred Grossers (Auswahl)
Deutschlandbilanz. Geschichte Deutschlands seit 1945, 1970
Das Bündnis, 1981
Versuchte Beeinflussung, 1981
Der schmale Grat der Freiheit, 1981
Das Deutschland im Westen, 1985
Frankreich und seine Außenpolitik, 1986
Mit Deutschen streiten, 1987
Mein Deutschland, 1993
Deutschland in Europa, 1998
Was ich denke, 2000
Wie anders sind die Deutschen?, 2002
Wie anders ist Frankreich, 2005
Die Früchte ihres Baumes. Ein atheistischer Blick auf die Christen, 2005
Der Begriff Rache ist mir völlig fremd
in: Martin Doerry (Hrsg.) Nirgendwo und überall zu Haus. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust, München 2006
Die Frage nach der Leitkultur
in: Robertson-von-Trotha, Caroline Y. (Hrsg.): Kultur und Gerechtigkeit , Band 2, Baden-Baden 2007
Von Auschwitz nach Jerusalem, 2009
Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz, 2011
Le Mensch, 2017
Wer ist eigentlich … Alfred Grosser ?
Eine Vorstellung in Selbstaussagen
Eine gängige Vorstellung Alfred Grossers in einem seiner Werke lautet zum Beispiel so:
„Alfred Grosser wurde 1925 in Frankfurt am Main geboren und ist seit 1937 Franzose. Er lehrte bis zu seiner Emeritierung als Professor am Institut d’Études Politiques in Paris. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter zuletzt bei C.H.Beck Wie anders sind die Deutschen? (²2002).
Alfred Grosser ist Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels und vieler weiterer Ehrungen und Auszeichnungen.“
* * *
Eine Vorstellung ganz besonderer Art findet sich in der Festschrift des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zur Verleihung des Friedenspreises 1975. Der Vorsteher des Börsenvereins Rolf Keller:
Alfred Grosser
Berufen zum Mittler, entschlossen, für den
Frieden zu wirken und zu streiten, ein Sucher
nach der Ethik und der Wahrheit, durchdrungen
von der Notwendigkeit des nie abreißenden
Dialogs zwischen Franzosen und Deutschen,
zwischen Gläubigen und Ungläubigen, zwischen
Europäern und den Menschen anderer Kontinente,
wurde er zum überzeugenden, unbestechlichen
Mahner.
* * *
Im Folgenden haben wir Textpassagen aus einigen seiner Bücher zusammengestellt, in denen Alfred Grosser sich selbst vorstellt, seine Biographie, seine Selbsteinschätzung, seine Überzeugungen.
1989 Die Privilegien, derer ich mich erfreuen kann, seien nur kurz erwähnt. Dank der Mutter, die ich hatte, dank der Frau, die ich gefunden habe, dank unserer vier Söhne und dank des in jeder Hinsicht privilegierten Berufs als Universitätsprofessor (in einer ihrerseits privilegierten Institution) war mir ein beständiges Gleichgewicht gewährt, ohne das ich möglicherweise andere Einstellungen hätte und weniger gelassen wäre.
Was ich als die für mich glücklichen Umstände bezeichnen möchte, verdient genauere Darstellung. Mein Temperament oder, wenn man dieses Wort vorzieht, mein Charakter. Wäre er anders ausgefallen, hätten mich die Schläge, die ich 1933 auf einem Frankfurter Schulhof einstecken mußte, für mein ganzes Leben gezeichnet: Ein achtjähriger Junge wird ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem seine Schulkameraden ihn verprügelt hatten, nur weil man ihnen gesagt hat, daß er als Jude nicht zu ihnen gehöre. Das Ereignis hat keine Spuren in mir hinterlassen. Und wenn ich, meiner älteren Schwester gleich – deren kurzes Leben 1941 als Folge der Flucht vor der Wehrmacht ein Ende fand -, pessimistisch und introvertiert wäre, dann hätte ich unter der Verpflanzung im Dezember 1933 und der Ankunft in einem unbekannten Frankreich, dessen Sprache ich nicht verstand, sicher gelitten. Von Anfang an jedoch war ich hier glücklich – trotz des Todes meines Vaters, sechs Wochen nachdem wir uns in St. Germain en Laye niedergelassen hatten.
Mein Temperament hätte jedoch härtere Prüfungen bestehen müssen, wären die Lehrerinnen der städtischen Schule nicht so überaus bewunderungswürdig gewesen und wäre die Eingliederung ganz allgemein nicht durch eine Vielzahl positiver Erfahrungen erleichtert worden. Da gab es zum Beispiel einen Elektriker: Er kam zu meiner Mutter und sagte: „Ihr Mann hat eine große Rechnung zurückgelassen [er war Kinderarzt gewesen und wollte ein Sanatorium einrichten], aber er war Kriegsveteran wie ich. Zwar nicht auf derselben Seite, aber Veteran ist Veteran. Sie bezahlen halt, wenn Sie können.“ Oder gar die Anführerin meiner Wölflingsschar bei den evangelischen Pfadfindern von St. Germain. Ich war der Anführer der Meute gewesen, die den Meutenwettkampf gewonnen hatte. Mir fiel deshalb die Ehre zu, beim Aufmarsch zum 11. November vor dem Totendenkmal den Totem zu tragen. „Akéla, ich werde Franzose, aber ich bins noch nicht. Steht es mir wirklich zu, an der Spitze zu gehen?“ – „Am 11. November feiern wir nicht den Sieg, sondern den wiedergewonnenen Frieden. Ein glücklicher Zufall also, daß gerade du vorne gehst.“ Wäre ihre Antwort anders ausgefallen, hätte ich mich vielleicht auch anders entwickelt. Die Eingliederung war schon nahezu vollkommen, als uns am 1. Oktober 1937 ein entscheidender Glücksumstand zuteil wurde: Durch eine Verordnung des Justizministers Vincent Auriol wurde Frau Lily Rosenthal, Witwe von Paul Grosser, und ihren beiden minderjährigen Kindern die französische Staatsbürgerschaft verliehen, was uns vor allem davor bewahrte, von der Regierung Daladier im September 1939 wie die anderen von Hitler verfolgten Deutschen als „Feinde“ in französische Lager interniert zu werden.
Während des Exils in St. Raphael – zunächst sogenannte freie Zone, dann unter italienischer Besatzung – hatten wir nicht wirklich zu leiden. Der Untergrund wäre hingegen ganz anders gewesen, wenn ich nicht im September 1943 in Grenoble den Verbindungsmann verfehlt hätte, der mich ins Maquis führen sollte: Entweder wäre ich im Vercors umgekommen, oder ich hätte mit dem Bild von einem barbarischen Massaker in der Erinnerung überlebt. …
Alfred Grosser: Verbrechen und Erinnerung. Der Genozid im Gedächtnis der Völker. München (dtv) 1993. S.8f.
* * *
1973 Es trifft sich nun, dass der Autor des vorliegenden Buches eben kein Spezialist der Philosophie, der Wissenschaftstheorie ist. Er ist ein Praktiker der politischen Analyse, der noch nicht einmal mit Sicherheit zu sagen weiß, ob seine Forschungen wirklich auf einer Wissenschaft von der Politik beruhen. Aber Forschung und Lehre haben ihn dahin geführt, sich über die angewandte Methode Gedanken zu machen und damit unweigerlich zu einer kritischen Reflexion über die Sozialwissenschaften, deren Techniken und Ergebnisse er benützte, und damit letztlich zur Erkenntnistheorie. Nicht aus reiner Liebe zur Kunst, nicht aus bloßer Lust am Denken, an der Spekulation über die schöpferische Spekulation, sondern weil er besser verstehen wollte, was er selbst und was die anderen tun, mit dem Ziel, danach besser forschen und jungen Forschern dabei helfen zu können, leichter am kollektiven Forschungswerk der Forschung mitzuwirken.
Alfred Grosser: Politik erklären. Unter welchen Voraussetzungen? Mit welchen Mitteln? Zu welchen Ergebnissen? München (Hanser) 1973. S.13
* * *
1975 Wer und was ist nun soeben „preisgekrönt“ worden? Es muss betont werden, dass ich als Stellvertreter dastehe. Stellvertretend für all jene Franzosen, die nach 1945 Deutschland und den Deutschen gegenüber die warme und tatkräftige Vernunft haben walten lassen und somit ihre Landsleute positiv beeinflusst haben. Für die unter ihnen, die sich durch Wort und Schrift eingesetzt haben, und noch mehr für die Unbekannten, die eine mühselige, zeit– und vor allem freizeitraubende Kleinarbeit vollbracht haben und noch vollbringen.
Aber nicht nur als Stellvertreter. Ich darf annehmen, daß durch die Preisverleihung ein besonderer Aspekt der Mittlerfunktion, die ich versuche auszuüben, besonders gutgeheißen wird. Nämlich mein ständiger Versuch, meine ständige Versuchung, auf die Entwicklung der Bundesrepublik etwas Einfluß auszuüben, indem ich die deutschen Verhältnisse für deutsche Leser und Hörer so darstelle, wie ich sie als wohlwollend besorgter Außenstehender sehe.
Ich betrachte den Preis als eine Ermutigung, mich auch weiterhin in der Bundesrepublik dem Vorwurf auszusetzen, ich mische mich in fremde Angelegenheiten ein. Was heißt da übrigens fremd? Es war doch gerade, weil wir uns für die deutsche Zukunft mitverantwortlich fühlten, daß wir die Zusammenarbeit begannen und die gegenseitige Beeinflussung guthießen.
Alfred Grosser: Die Bundesrepublik, der internationale und der innere Friede. In: Alfred Grosser. Ansprachen anlässlich der Verleihung des Friedenspreises. Bibliographie des Preisträgers. Frankfurt am Main (Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V.) ²1975. S. 37f.
* * *
1980 Liebe Neusser Gymnasiasten!
Es antwortet Euch ein glücklicher Mensch, der Euch in ein paar wenigen Sätzen andeuten möchte, wie das so mit der Freude am Leben gekommen ist.
Meine erste „Erfahrung“ war, als kleiner Judensohn in einer Frankfurter Schule von achtjährigen Kameraden so verprügelt zu werden, daß ich ins Krankenhaus mußte. Geistige Spuren sind nicht geblieben – außer der Überzeugung, man muß Verführte aufklären, denn die Schuldigen sind die Verführer. Mit 9 kam ich nach Frankreich und habe mich schnell eingelebt, habe aber dabei nie den Kontakt zur deutschen Sprache und Kultur verloren: Man soll offen sein für jeden geistigen Reichtum, auch wenn im Namen eines Volkes Massenmorde vollbracht werden.
Die grausamen Seiten der Kriegszeit haben mich zweierlei gelehrt. Als ich erfuhr, daß ein Teil meiner Familie in Auschwitz umgekommen war, entdeckte ich, daß ich nie eine Menschengruppe (die Deutschen) für kollektivschuldig halten würde, daß ich aber nach dem Krieg für den Aufbau eines anderen Deutschlands mitverantwortlich sein würde, eben weil ich unter dem verbrecherischen gelitten hatte. Und das Gefühl der Mitverantwortlichkeit, das zum Mitwirken führt, ist beglückend.
Und dann habe ich in Marseille, nach einem Bombenangriff, so viele Leichen und verkrüppelte Menschen gesehen, daß ich seitdem alle Dinge im Vergleich zum Tod und zum Elend sehe. Das Glücklichsein erreicht man auch durch den Vergleich (oft mit schlechtem Gewissen!) mit denen, die weniger haben.
Sich eifersüchtig mit denen zu vergleichen, die mehr haben, macht unglücklich. Übrigens: Neid wie Haß, wie Bitterkeit bedeuten Zeitverlust. Denn es bleibt uns wenig Zeit bis zum Tode – und diese Zeit sollten wir nicht mit unnützen Dingen vergeuden!
In späteren Jahren habe ich dann viel äußeres Glück gehabt – im Berufsleben und im Privatleben. Meine Mutter war zugleich meine Mitarbeiterin in der deutsch-französischen Arbeit bis zu ihrem Tod 1968. Ich habe 1959 eine meiner Doktorandinnen geheiratet (die Dissertation ist nie fertig geworden …), und unser Honigmond ist noch nicht beendet. Unsere vier Söhne (19, 16, 11 und 10 Jahre) bringen Freude und Sorgen (je älter sie werden, desto mehr Sorgen …), aber das Grundelement der Freude ist bis jetzt geblieben, weil der gegenseitige Respekt zusammen mit der Liebe geblieben ist. (Übrigens, was ist Liebe? U.a. daß man sich darauf freut, später zusammen alt werden zu dürfen!)
Ich bin mir meiner Privilegien wohl bewußt: Ich stamme aus einer privilegierten Familie, die Kultur und Selbstsicherheit zu vermitteln hatte. Ich habe einen schönen Beruf – und bin dabei sogar Beamter, d.h. daß ich nicht arbeitslos werden kann. Ich bin gesund, und Frau und Söhne sind unversehrt. Aber es geht auch um eine Grundeinstellung (für die ich wenig kann: sie ist weitgehend angeboren; ich versuche aber doch, sie durch Selbstkontrolle aufrecht zu erhalten): Zufrieden sein, ohne sich zufriedenzugeben, so viel Freude wie möglich zu empfangen und zu geben …
So, nun macht mit dieser Predigt, was ihr wollt …
Herzliche Wünsche für‘s Abitur
Alfred Grosser
Alfred Grosser: Mit Deutschen streiten. Aufforderungen zur Wachsamkeit. München (dtv) 1992. S.290f.
1980 Fragebogen zur Person
(erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 27.6.1980)
Was ist für Sie das größte Unglück?
Unklare Frage. Von mir bereits erlitten? Für andere? Von mir bereits erlitten: Trotz äußeren Anscheins keines, das sich nicht auch positiv ausgewirkt hätte.
Wo möchten Sie leben?
Da, wo ich eben lebe – wenn ich doch die Gabe hätte, an verschiedenen Orten gleichzeitig zu leben (vgl. die Kurzgeschichte von Marcel Aymé, Les Sabines).
Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück?
Frau und Kinder, Musik und Obst.
Welche Fehler entschuldigen Sie am ehesten?
Das Draufgängertum, die Frechheit, die Selbstzerstörung.
Ihre liebsten Romanhelden?
Peter und Andreas in Krieg und Frieden; Luce in Jean Barois von Roger Martin du Gard, Bischof Myriel in Victor Hugos Les Misérables.
Ihre Lieblingsgestalt in der Geschichte?
Kaiser Hadrian – wenn er wirklich so war wie ihn Marguerite Yourcenar sprechen läßt.
Ihre Lieblingsheldinnen in der Wirklichkeit?
Die Frauen, die seit langen Jahren mit der sogenannten „Vierten Welt“ in den Slums um Paris leben und wirken.
Ihre Lieblingsheldinnen in der Dichtung?
Bei Racine, Aricie in Mithridate, bei Giraudoux, Alkmene und Isabelle (Intermezzo).
Ihre Lieblingsmaler?
Monet, Goya.
Ihre Lieblingskomponisten?
Mozart, Schubert.
Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einem Mann am meisten?
Zuverlässigkeit, menschliche Wärme.
Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einer Frau am meisten?
Dieselben.
Ihre Lieblingstugend?
Aufgeschlossenheit.
Ihre Lieblingsbeschäftigung?
Zu einem Publikum sprechen.
Wer oder was hätten Sie sein mögen?
Weltveränderer.
Ihr Hauptcharakterzug?
Kontinuität.
Was schätzen Sie bei Ihren Freunden am meisten?
Daß sie ihr Leben auf einer ethischen Grundlage selbst gestalten. Daß die Achtung, die ich für sie habe, die Achtung, die sie mir erweisen, mir dazu hilft, Selbstachtung zu bewahren.
Ihr größter Fehler?
Einzelgängertum.
Ihr Traum vom Glück?
Warum von etwas träumen, das man so oft gehabt hat, hat und haben wird.
Was wäre für Sie das größte Unglück?
Der Tod meiner Frau oder eines unserer Söhne. Die geistige Verminderung durch Krankheit oder Alter.
Was möchten Sie sein?
Ein Mensch mit weniger kritischem Geist, das heißt mit mehr Gabe zum Schöpferischen.
Ihre Lieblingsfarbe?
Blau.
Ihre Lieblingsblume?
Rhododendronbüsche.
Ihr Lieblingsvogel?
Die Möwe.
Ihr Lieblingsschriftsteller?
Roger Martin du Gard.
Ihr Lieblingslyriker?
Heine.
Ihre Helden in der Wirklichkeit?
Pierre Mendès France, Pater Joseph Wreczinski (Vierte-Welt-Bewegung), Bonaparte 1801 – 1803.
Ihre Heldinnen in der Geschichte?
Jeanne d‘Arc, Marie Curie.
Ihre Lieblingsnamen?
Jean, Pierre, Marc, Paul – so heißen die Söhne.
Was verabscheuen Sie am meisten?
Die intellektuellen Moden, den Standesdünkel, das Untertanentum.
Welche geschichtlichen Gestalten verabscheuen Sie am meisten?
Bewußte Mitläufer hohen Ranges zu allen Zeiten.
Welche militärischen Leistungen bewundern Sie am meisten?
Die deutschen und französischen Schützengraben-Soldaten vor Verdun.
Welche Reform bewundern Sie am meisten?
Die Verkündigung der Grundrechte und Grundfreiheiten in Amerika und Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts.
Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen?
Geschicklichkeit zum Zeichnen und zum Handwerkern, musikalische Begabung.
Wie möchten Sie sterben?
Bewußt.
Ihre gegenwärtige Geistesverfassung?
Heiter.
Ihr Motto?
-
Immer zufrieden sein, sich nie zufriedengeben.
-
Vernunft und Wärme.
zit.n. Alfred Grosser: Versuchte Beeinflussung. Zur Kritik und Ermunterung der Deutschen. Aufsätze und Ansprachen 1975 – 1980. München (dtv) 1983. S.291ff.
Die Texte wurden im Januar 2008 anlässlich eines Tages der Offenen Tür der Gemeinsamen Orientierungsstufe von Realschule und Gymnasium zusammengestellt. Die zitierten Werke gehören zum Bestand der Schulbibliothek im Alfred-Grosser-Schulzentrum.
DOWNLOAD: Lebensbild Alfred Grosser 2019