„Erst ab minus 31 Grad mussten wir nicht mehr raus“

218 Seiten stark ist der Interviewband mit 36 Zeitzeugen, die Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums im Alfred-Grosser-Schulzentrum seit 2013 zum Ende des Zweiten Weltkriegs und zur Wende 1989 befragten. Außerdem stellten sie am Dienstag, dem 24.9., im Schloss Bad Bergzabern Kunstprojekte zu diesen Themen vor. Die Arbeit ist Teil eines europäischen Comeniusprojekts, an dem auch Schüler aus Litauen, Polen (Umbruch 1989), Frankreich (1945 und Algerienkrieg) sowie Norwegen (Immigrationsgeschichte und Attentat von 2011) teilnehmen. 

„Erst bei unter minus 30 Grad mussten wir nicht mehr draußen arbeiten”, sagt der heute 91-jährige Gustav Eck aus Dierbach. Er war nach drei Jahren an der Ostfront von 1945 bis 1949 in russischer Kriegsgefangenschaft. Die sei schlimmer als der Krieg selbst gewesen: „Hunger, Kälte, Misshandlungen, Gefängnis, Verhöre” habe er dort erlebt. Gustav Eck ist einer der 36 Zeitzeugen, die von Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums im Alfred-Grosser-Schulzentrum im Rahmen eines europäischen Comenius-Projekts befragt wurden. An diesem Dienstagnachmittag präsentieren sie das Ergebnis: Einen 218 Seiten starken Reader mit den Interviews sowie Kunstwerke, die in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entstanden sind.

Professor Alfred Grosser,  Namensgeber des Schulzentrums Bad Bergzabern, hat sich sein Leben lang für die europäische Verständigung eingesetzt. „Können nicht zuerst die Schüler was sagen?” ist seine erste Äußerung; „ich spreche in einem von Frankreich zerstörten Gebäude”, sagt der 89-Jährige dann über das Bergzaberner Schloss. Er selbst floh mit seiner Familie 1933 aus Frankfurt und ist seitdem auch Franzose. Anschließend erzählt er sowohl vom französischen Algerienkrieg als auch davon, dass junge Deutsche oft „unwissend zur Hitlerjugend” kamen. So wirbt er für europäische Verständigung. Dazu passe auch der Reader der Schüler. „Sie müssen es lesen, um zu sehen, wie heute Jugendliche sehen, was Jugendliche damals erlebt haben”, fordert Alfred Grosser die zahlreichen Zuhörer im Bürgerbüro des Schlosses Bad Bergzabern auf.

„Jedes Trauma, das man nicht in Worte fasst, kommt eines Tages wieder zurück und kann verheerende Folgen haben”, habe einer der Zeitzeugen gesagt, erzählt eine der betreuenden Lehrerinnen, Annette Kliewer vom Gymnasium im Alfred-Grosser-Schulzentrum. Deshalb hätten die Schülerinnen und Schüler aus Bad Bergzabern gemeinsam mit Norwegern, Litauern, Polen und Franzosen erforscht, wie die Nationen mit ihrer Vergangenheit umgehen. In jedem Land haben eigene Themen im Mittelpunkt gestanden. In Litauen und Polen die Wende 1989, in Frankreich 1945 und der Algerienkrieg, in Norwegen die Immigrationsgeschichte und das Attentat von 2011 und in Deutschland die Wende 1989. Bei der Veranstaltung im Schloss teilten die Schülerinnen und Schüler „ihren“ Zeitzeugen den Reader mit den Interviews aus. Verbandsgemeindebürgermeister Hermann Bohrer (SPD) begrüßte als Gastgeber die Schüler, Zeitzeugen aus dem Elsass und der Südpfalz und die Lehrer sowie Professor Grosser. Er freue sich, dass die Schülerinnen und Schüler sich mit zwei einschneidenden Ereignissen im vergangenen Jahrhundert beschäftigt haben, indem sie Menschen befragten, die dabei waren, so Hermann Bohrer. Seit 2013 haben alle Beteiligten lange Gespräche mit den Zeitzeugen geführt und in mühseliger Kleinarbeit aufgeschrieben. Danach erstellten sie aus Kernszenen und -themen der Interviews künstlerische Umsetzungen. Hier waren sie einfühlsam und kreativ, etwa, wenn eine Decke über die traumatisierenden Erinnerungen eines Zeitzeugen gehängt wurde, wenn für eine 93-jährige Zeitzeugin eine Facebook-Seite geöffnet wird, wenn eine Collage von Familienfotos für das bewegte Leben einer Elsässerin steht. Auf künstlerischem Weg wurde so das Gespräch zwischen den Generationen fortgeführt.

Die Erkenntnis, dass das Schweigen zwischen den Generationen überwunden werden kann, war für Projektleiterin Dr. Annette Kliewer der wichtigste Ausgangspunkt dafür, das Projekt zu initiieren: „Das Schweigen über das Vergangene verletzt. Es verletzt einzelne Menschen, die nicht wahrgenommen werden, deren Schicksal vergessen wird. Und es verletzt die anderen, die die Vergangenheit übergehen und nicht aus ihr lernen können.“

„Ich bin froh, dass sich die jungen Leute dafür interessieren“, so Gustav Eck, der ehemalige russische Kriegsgefangene. Seine Enkelin Julia Steegmüller aus Landau kennt die Geschichten auch und sagt, ihr Großvater sei damals im gleichen Alter gewesen wie die Schüler heute. „Gegen seine Erlebnisse haben wir heute nur Luxusprobleme“, sagt die Lehramtsstudentin aus Landau. Ihr Großvater schmunzelt. „Wenn ich an unseren Hunger denke, das kann man kaum vermitteln, wie das war“, sagt er. An medizinischer Ausrüstung für die unterernährten, von Wanzen malträtierten, durchgefrorenen Gefangenen habe es nur ein Fieberthermometer gegeben. „Viele sind verstorben“, sagt Gustav Eck. Ihn habe sein Glauben am Leben erhalten. Seit er wieder nach Hause kam, gebe es keine Beschwerden mehr: „Wenn Sie keinen Stacheldraht mehr um sich haben, wenn sie frei laufen können, ohne an andere Gefangene angekettet zu sein, ist jeder Tag ein Geschenk“. Nur auf einer Sache bestehe er, sagt Gustav Ecks Enkelin: „Beim Opa wird nix weggeschmissen – selbst abgelaufene Lebensmittel.“ 

Bei anderen hat der Krieg sogar für eine Versöhnung mit dem ehemaligen „Feind“ gesorgt: Anna Bingler aus Bad Bergzabern, eine der Schülerinnen, die bei dem Projekt mitgemacht haben, erzählt, dass „ihr“ Zeitzeuge  – der Franzose  Josef Ehrmann (geboren 1937 im Elsass) – sich seit Kriegsende für die deutsch-französische Freundschaft einsetzt. „Er ist nach dem Abitur durch Deutschland getrampt und habe gemerkt, dass es auch vernünftige Deutsche gebe“, erzählt Anna Bingler fasziniert. Er habe sogar eine Deutsche geheiratet. Josef Ehrmann steht daneben und schmunzelt. Er habe dann unter anderem Deutsch studiert, um zu unterrichten. „Beim Studium in Marburg habe ich dann meine deutsche Frau kennengelernt – das fand mein französischer Vater allerdings gar nicht gut“, erzählt Josef Ehrmann weiter. Seine Frau, die lange Lehrerin am Gymnasium in Bad Bergzabern war, lächelt. 

COMENIUS 1

(Fotograf Lars Oberhofer, Schüler der Foto-AG): von links: Stefanie Müller (Schüler), Max Berger (Schüler), Alfred Grosser, Larissa Rohde (Schüler), Jana Hitziger (Schüler), Benedikt Gubisch (Schüler), Johanna Ginzer (Schüler), Josef Ehrmann und Gattin (Zeitzeugen)

COMENIUS 2

(Fotograf Stefan Bingler, Lehrer Gymnasium): Von links: Verbandsgemeindebürgermeister Hermann Bohrer, Alfred Grosser, Mme Grosser, Schulleiter des Gymnasium Philipp Gerlach, Annette Kliewer, eine der Leiterinnen des Projekts

COMENIUS 3

(Foto Stefan Bingler): Eleonore Beinghaus, eine der Lehrerinnen, die das Projekt betreut, mit Zeitzeuge Gustav Eck, Jahrgang 1925, der den Schülern von seiner Kriegsgefangenschaft in Russland erzählte

COMENIUS 4
(Foto: Stefan Bingler): von links: Stefanie Müller, Max Berger, Alfred Grosser, Jana Hitziger, Johanna Ginzer sowie das Ehepaar Ehrmann (Zeitzeugen für die deutsch-französische Verständigung)

COMENIUS 5
(Stefan Bingler): von links: Frau Ehrmann und Josef Ehrmann (Jahrgang 1937, Elsässer, heiratete eine Deutsche und setzte sich als Franzose für die dt.-frz. Verständigung ein

Das Comenius-Projekt

Im Comenius-Projekt „Europäische Erinnerungskulturen. Umbrüche und Aufbrüche in Gesellschaften und Biographien“ beschäftigen sich Schülerinnen und Schüler aus Wadowice (Polen), Vilnius (Litauen), Lillesand (Norwegen), Dijon (Frankreich) und Bad Bergzabern damit, wie eine Gesellschaft mit den für sie wichtigen Erfahrungen umgeht. Die Bergzaberner Schüler haben zum  Beispiel Zeitzeugen zu den Umbrüchen 1945 und 1989 interviewt und die Ergebnisse in einem Buch zusammengestellt. In Frankreich geht es um 1945 und um den Algerienkrieg, in Norwegen um Immigrationsgeschichte und das Attentat von 2011 und in Litauen und Polen um den Umbruch 1989. Die Schüler setzen sich nun schreibend, theaterspielend, filmend und künstlerisch damit auseinander, wo in der Geschichte ihres Landes Brüche waren und wie ihre jeweiligen Kulturen sich daran erinnern. Das Projekt läuft seit 2013 und endet mit einer Abschlusswoche mit allen Partnern ab 13. April 2015. Es wird von der Europäischen Union bezahlt. Folgende Lehrer und Lehrerinnen des Gymnasiums Bad Bergzabern sind beteiligt: Annette Kliewer, Eleonore Beinghaus, Stefan Bingler, Sascha Müller, Elke Neumann, Verena Rolfes, Annett Waßmer und Ralf Weiser. Sie treffen sich einmal im Monat in einer Arbeitsgemeinschaft mit 23 Schülerinnen und Schülern.

VOL/KLI, 9/14