„Meine, deine, unsere Niere”

Im Rahmen des Evang. Religionsunterrichts hatte der Grundkurs 12 von Hrn. Dr. Meißner ein Halbjahr das Schwerpunktthema Bio- und Medizinethik beackert. Gegen Ende des Schuljahres diskutierten die Schülerinnen und Schüler verschiedenste Aspekte der Organtransplantation. In diesem Rahmen hatten sie auch Besuch von einer Betroffenen: einer Altenpflegerin aus der Region, die ihrem Neffen eine Niere gespendet hat. Über das Gespräch mit der Frau, deren Name anonym bleiben soll, berichtet Michel Semar:

Beim Thema Organspende werden viele Menschen schnell misstrauisch. Dies ist nicht zuletzt den vielen Skandalen der letzten Jahre geschuldet, welche die öffentliche Meinung zum Teil tief erschüttert haben. In mehreren Fällen haben Ärzte die Untersuchungsergebnisse ihrer Patienten gefälscht, um ihnen so auf illegale Weise einen besseren Platz auf der Warteliste zu erschleichen. Es gibt allerdings noch eine andere Möglichkeit, ein Organ zu spenden, beziehungsweise ein solches zu erhalten, über die viele Bürger gar nicht Bescheid wissen: Die sogenannte Lebendspende.

Bei dieser Art der Organtransplantation werden nicht-lebenswichtige Organe, beispielsweise eine Niere, aus dem Körper des lebendigen Spenders entnommen und dem Empfänger direkt eingepflanzt. Dabei sind die Erfolgsaussichten im Vergleich zur Totspende sehr viel größer. Über 80% der verpflanzten Nieren arbeiten auch noch nach über fünf Jahren einwandfrei. Doch der Gesetzgeber hat der Lebendspende enge ethische Grenzen auferlegt. So ist eine Spende nur unter nahen Verwandten oder Paaren mit enger persönlicher Bindung, und auch nur unter Ausschluss eines kommerziellen Hintergrunds, möglich. Damit will der Staat dem organsierten Organhandel vorbeugen.

Die Vorgeschichte der Organspende, über dich ich berichten will, beginnt schon sehr früh. Der heute 30-jährige Neffe verfügt schon von Geburt an über nur eine funktionsfähige Niere. In der verbleibenden Niere kommt es dann einige Jahre später ebenfalls zur Fehlfunktion. Der junge Erwachsene wird zum Dialysepatient. Außerdem meldet er sich bei Eurotransplant, doch von dort heißt es, er habe in absehbarer Zeit keine Chance auf ein Spenderorgan. Also geht der Patient weiterhin zur Dialyse, drei Mal die Woche, fünfeinhalb Jahre lang. Dann kommt den Familienmitgliedern die Idee einer Lebendspende in den Sinn. Sofort lassen sich seine Geschwister und seine Eltern testen, doch die Ergebnisse sind ernüchternd. Keines der Organe passt mit den Oberflächenstrukturen der kranken Niere zusammen. Als nach sechs Monaten die Tante des Patienten von den Geschehnissen erfährt lässt sie sich sofort auch testen. Dazu fährt die Frau mehrmals zu Voruntersuchungen und ausführlichen Beratungsgesprächen nach Heidelberg. Die Untersuchungen ergeben: Die Niere der kerngesunden Frau eignet sich perfekt zur Transplantation an ihren kranken Neffen. Damit ist der Weg frei für den nächsten Schritt.

Die ältere Dame muss vor einer Ethikkommission in Karlsruhe aussagen. Dort soll festgestellt werden, ob es sich bei der Spende nicht um Missbrauch handelt. In einer zweistündigen verhörähnlichen Befragung erzählt sie über ihrer persönlichen Beweggründe und versichert der Kommission, dass die Transplantation unentgeltlich stattfindet. Als persönliche Gründe nennt sie die enge familiäre Bindung mit ihrem Neffen und die Hoffnung seine Lebensqualität nachhaltig und deutlich zu verbessern. So vergeht fast ein ganzes Jahr von der ersten Entscheidung zur Untersuchung bis zum Tag der Operation. Die Transplantation findet am 15.12.2015 in der Uniklinik Heidelberg statt. Bereits sieben Tage später wird die Spenderin wieder entlassen. Negative Folgen hat die Operation für sie keine und sie muss auch keine Medikamente nehmen. Lediglich eine 17,5 cm große Narbe und das glückliche Gesicht ihres Neffen erinnern sie heute noch an die Transplantation.

Ihr Neffe nimmt noch Medikamente zur Immunsuppression, doch die Niere arbeitet einwandfrei, voraussichtlich noch über zehn Jahre lang. Mit seiner neuen Niere kann er endlich wieder in Urlaub fahren und an gemeinsamen Unternehmungen teilhaben. Fragt man die Beiden danach, wem die Niere nun eigentlich gehört, antwortet die Frau mit einem Lächeln, es handele sich um ,,meine, deine, unsere Niere.” Das Verhältnis der beiden hat sich seit der Operation nicht verändert, da die Entscheidung zur Lebendspende eine absolut freie war, doch auch die Frau weiß, dass sich viele Menschen nur aufgrund des gesellschaftlichen Drucks letztendlich zur Spende bereit erklären. Für die ältere Altenpflegerin, die außerdem noch im Besitz eines Organspendeausweises ist, hat die Lebendspende jedoch noch einen weiteren Vorteil: Sollte sie jemals in die Position kommen, selbst ein Spenderorgan zu benötigen, hat sie als Empfängerin bei einem Nierenversagen nach ihrer Lebendspende absolute Priorität bei der Vergabe eines Listenorgans. Doch wir hoffen wahrscheinlich alle, dass es nicht soweit kommen wird.

Dieses Gespräch hat auch mich selbst sehr nachdenklich gestimmt. Bis jetzt habe ich mir nicht viele Gedanken über Organspende gemacht. Ich besitze weder einen Organspendeausweis, noch ist eines meiner Familienmitglieder auf eine Lebendspende angewiesen. Doch wie würde ich mich verhalten, wenn mich ein naher Verwandter um eine Lebendspende bittet? Bei meinen Überlegungen bin ich dann bald darauf bei dem Punkt angelangt, dass es fast unmöglich ist so etwas im Vorfeld zu erörtern und persönlich zu entscheiden. Die Situation ist so komplex, dass ich es nicht vorherzusagen vermag, ob ich generell zu einer Spende bereit wäre oder nicht. Bei einer Lebendspende opfert man wortwörtlich Teile seines Körpers, um einem Mitmenschen zu helfen. Eine sehr lobenswerte Einstellung, wenn man wüsste, dass eine Transplantation dem anderen Menschen mit absoluter Sicherheit hilft. Doch wie würde ich meine Entscheidung rückblickend betrachten, wenn die Operation ein Fehlschlag wird und ich durch den Eingriff langzeitig beeinträchtigt werde, während der Empfänger gleichzeitig keinen Nutzen von der Spende erhält, weil das Organ abgestoßen wird? Vermutlich ließe sich diese Entscheidung psychisch besser verkraften als der Tod eines Angehörigen aufgrund eigener möglicherweise irrationaler Ängste. Trotzdem ist dieses Szenario meiner Meinung nach eine schauerliche Vorstellung. Ich hoffe deshalb inständig mich nicht eines Tages in diesem Dilemma wiederzufinden, mich für oder gegen eine Lebendspende entscheiden zu müssen.

Michel Semar, (MSS 12)/MEI, 7,16