Heimaturlaub

Joachim Geil: Heimaturlaub


von Günther Volz


Der Leutnant Dieter Thomas kommt im Sommer 1944 aus einem Wiener Lazarett in das Städtchen Bergzabern. Auf Urlaub in der Heimat, auf Urlaub von der Front. Und 1944 ist auch die Heimat zur Front geworden. „Willkommen an der Heimatfront!“ begrüßt Gustav seinen Neffen Dieter.

Was Dieter in seinem Urlaub gemacht und erlebt hat, das möchte der Erzähler herausfinden. Er trägt nun Daten und Fakten zusammen, um die Geschehnisse in diesem Sommer zu rekonstruieren. Er findet eine Kiste mit Dutzenden von Briefen, die Dieter an seine Verwandten in Bergzabern geschrieben hat. Wie ein Archivar ordnet und registriert er die Dokumente. Er blättert in den Zeitungen von 1944, studiert die Leitartikel wie die Nachrichten und den Wehrmachtsbericht. Er interviewt am Ende eine Reihe von Zeitgenossen. Er arbeitet im Grunde wie ein Historiker. Alle Daten bekommen eine Ordnung, ergeben ein Bild. Seine Darstellung sollte doch authentisch sein, sagt er sich.

Das ist der Plot des Romans:

Das Städtchen Bergzabern hat im Juni 1944 noch keine Schäden erlitten; doch der Alltag der Bewohner ist vielen Einschränkungen unterworfen. Die Verwandten umsorgen und verwöhnen den Urlauber, der Narben an Leib und Seele hat. Allmählich werden ihm die Spannungen deutlich, die sich in der Familie aufgebaut haben. Der eine Pol ist der Großvater Eugen, ein alter liberaler Pfarrer, der den Tod seines Sohnes im 1. Weltkriege nie verwunden hat. Er sieht kein Heil von dem Manne kommen, der das Reich zu neuer Größe führen will. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Der andere Pol ist der Onkel Gustav. Verwundet ist er aus dem Weltkrieg gekommen. Er sinnt auf Revanche für die Schmach, die das Vaterland 1918 erlitten hat. Für ihn ist 1933 der Messias erschienen.

Was Dieter vor allem erwartet, ist die Begegnung mit Heidi. Er kennt sie schon so lange, als Kinder spielten und badeten sie miteinander. Inzwischen ist sie ein Fräulein geworden. Heidi ist die Tochter eines Majors, der als Reichsdeutscher 1918 das Elsass verlassen musste. Er spielte eine führende Rolle in dem Kriegerverein des Städtchens. Den braunen Machthabern sollte er wie der greise Mackensen als Staffage dienen. Heidi ist das Idealbild von einem deutschen Mädchen. Sie bekommt Beifall von dem Major und den Parteigrößen des Ortes, als sie aus den „Stahlgewittern“ von Ernst Jünger vorliest.

„Der Mensch ist dem Material überlegen, wenn er ihm die große Haltung entgegenzustellen hat, und kein Maß und Übermaß der äußeren Gewalten ist denkbar, dem die seelische Kraft nicht gewachsen wäre.“

Warum hat sie diese Stelle mit solchem Nachdruck vorgelesen? Dieter ist nicht fähig, den Schluss aus diesem Satz zu ziehen. Die Tochter des Majors ist von keinem Zweifel angekränkelt. Sie sieht in Dieter den Helden, der das Abendland gegen die Bolschewisten verteidigt. Den Ostlandritter, der in den Balladen der Agnes Miegel auftaucht. Diese Ritter erfüllen auf dem russischen Schlachtfelde eine göttliche Sendung. In ihren Träumen reitet Heidi schon mit ihrem Helden über die unendlichen Weiten des Ostens. Doch ihr Held ist bei dem ersten Liebesspiel ein kläglicher Versager.

Als Dieter in den Armen der Freundin liegt, blockieren ihn die Erinnerungen an Maschenka, an ein russisches Mädchen und ihr grausames Ende. Er hat einen Menschen getötet. War es Tötung auf Verlangen? War es Tötung aus Erbarmen? Jedenfalls ist er schuldig geworden. Die harmlosen Freizeitvergnügungen werden mehr und mehr von Schreckensvisionen überlagert. Sein Bewusstsein erfüllen immer wieder mörderische Gedanken. Furien tauchen auf wie in einem antiken Drama. Der breite Erzählfluss in dem Roman wird zum furiosen Duktus.

Am Ende des Urlaubs sucht Dieter das Grab der Mutter auf. Er findet nicht den inneren Frieden, sondern gerät in einen quälenden Zwiespalt.

„Habe die Uniform weggeworfen, habe ich nicht. Bin nach Hause gegangen, bin ich nicht, und habe ein paar Wochen gewartet, habe ich nicht. Dann war der Krieg aus, war er nicht.“

Wird er weiter dem Teufel dienen, wie der Großvater sagt. – Wird er in den Kampf wie in einen Gottesdienst hineingehen, wie der Chefpropagandist Hitlers verlautete. Schöpft der Onkel Gustav Verdacht, als er ohne Uniform vor ihm steht? Dieter muss befürchten, dass ihn der Onkel denunzieren wird, wie er den Großvater denunziert hat. Volksverräter und Wehrkraftzersetzer – Elemente, die der Volksgenosse zu melden hat. Als Dieter vom Friedhof zurückkommt, zieht ein schweres Gewitter auf. Es ist schlimm, wenn es aus dem Weißenburger Loch kommt, weiß Onkel Gustav. Es erscheint wie der Vorbote des Unheils, das schon bald über die Heimat hereinbrechen wird. Wie sich Dieter entscheidet, er gerät zwischen die Fronten.

Der Gedanke an Fahnenflucht ist weggewischt. Er wird nicht zum Deserteur wie der Schriftsteller Alfred Andersch, der in Etrurien die Freiheit wählt.

Der Ich-Erzähler stellt an das Ende des Romans die letzten Briefe, die er bei seinen Recherchen vorgefunden hat. Am 19. August 1944 schreibt Dieter den Großeltern, dass er wieder bei seinen alten Kameraden an der Ostfront angekommen ist. Nur drei Tage später ist der Leutnant Dieter Thomas den Heldentod für Deutschlands Zukunft gestorben, wie ein Militärarzt den Eltern schreibt. Er ist auf dem Heldenfriedhof in Radom mit allen militärischen Ehren beigesetzt.Der Leser wird sicherlich die Frage aufwerfen, inwieweit die Darstellung in dem Roman „Heimaturlaub“ authentisch ist. Er möchte wissen, wer sich hinter dieser oder jener Figur verbirgt. Der Referent möchte vor dieser Art der Betrachtung warnen. Der Schriftsteller ist in keiner Weise an die Fakten gebunden, die er vorfindet. Er schildert, wie die Welt sein könnte oder sein sollte. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass eigene Erfahrungen und Erkenntnisse bewusst oder unbewusst in sein Werk einfließen.

Es mag auf den ersten Blick erstaunen, dass ein Autor des Jahrgangs 1970 Ereignisse aus dem letzten Kriegsjahr in der Pfälzer Provinz thematisiert. Er könnte wie andere Nachgeborene die „Gnade der. späten Geburt“ in Anspruch nehmen. Das heißt für viele im Grunde: Was habe ich mit diesen Geschehnissen zu schaffen? Für ihn jedoch gilt, was der Philosoph George Santayana formuliert hat: „Wer sich nicht seiner Vergangenheit erinnert, der ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“

Mehr sei nicht vorweggenommen, denn Sie sollten den Autor hören und letzten Endes den Roman lesen.

Joachim Geil, Jahrgang 1970, Abitur am Gymnasium Bad Bergzabern, Theater-AG…

Es war nur konsequent, dass Joachim das Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Köln begann. Das Thema seiner Magisterarbeit war: Egon Wilden – Maler und Bühnenbildner.

Als Kurator wirkte er bei verschiedenen Ausstellungsprojekten in Düren und Köln, vor allem über das Schaffen von Theaterleuten wie Sellner und Wunderwald oder Maler Wie Josef Ferdinand Seitz.

Aus seiner Feder stammen Drehbücher für Filme und Hörspiele.

„Ohne mich“ ist der Arbeitstitel eines Films über das Schicksal eines Überlebenden der Shoa, dessen Drehbuch nun vorliegt.

Zurzeit arbeitet Joachim Geil als Lektor eines Kölner Verlags.

„HEIMATURLAUB“ ist der erste Roman des Autors. Er erscheint bei Steidl, das ist ein kleiner und renommierter Verlag, zu seinen Autoren zählen z. B. Günter Grass und Erich Loest.

„Heimaturlaub‘“ ist ein erster großer Wurf, dem weitere folgen sollen.